in: Thomas Müller, Gezeiten, Zeichnungen/Dessins, (Ausst.Kat.) Galerie Schlégl, Zürich und Galerie Vidal-Saint Phalle, Paris 2009

Auch in Anbetracht eines Zeichnungsbooms im derzeitigen Kunstbetrieb gehört Thomas Müller zu den letztendlich immer noch wenigen Künstlern, die ausschließlich im Medium der Zeichnung arbeiten. Er kann dabei bereits auf einen längeren Weg zurückblicken, der in den 1980er Jahren, während seines Studiums in Stuttgart, seinen Ausgangspunkt besitzt. In diesem ersten Jahrzehnt – und bis Mitte der 1990er Jahre – widmete sich Müller gleichberechtigt auch der Malerei. Es ist nicht unwichtig, dies zu betonen, da das malerische Element nicht nur technisch (mit dem Einsatz von Öl- und Acrylfarben), sondern auch ästhetisch (mit der Entwicklung farbiger Flächen bzw. Körper) in seiner Zeichnung bis heute weiterlebt und zu deren Komplexität wesentlich beiträgt. Dies belegen viele der in diesem Katalog vereinten Werke (vgl. etwa Abb. S. 18, 29, 46, 61).Die über die Jahre erfolgte Entwicklung der Zeichnungen lässt sich anhand der seit 1986 erschienenen Kataloge von Thomas Müller gut nachvollziehen. Diese dokumentieren seinen ebenso beharrlichen wie offenen Diskurs im Feld der Zeichnung, der im Laufe der Zeit ein weit verzweigtes, stetig wachsendes Netzwerk an bildnerischen Formulierungen hervorgebracht hat. Dabei werden im Prozess des Zeichnens immer wieder neue Bildelemente entwickelt und weiter verfolgt. Von einer sich scheinbar zwangsläufig einstellenden Routine ist Thomas Müller somit weit entfernt: Jede Zeichnung bleibt eine neue Behauptung und damit ein Wagnis sui generis. Man betrachte in diesem Katalog etwa die mittels blauem Kugelschreiber, blauem Farbstift und Bleistift angefertigte Zeichnung auf Seite 14, die exemplarisch das ‚Risiko’ einer zeichnerischen Setzung verdeutlicht – und ihre Sinnfälligkeit. Was auf den ersten Blick das Resultat einer zufälligen Tätigkeit der zeichnenden Hand zu sein scheint, erweist sich als tragfähiges Gefüge, das nicht nur das hochrechteckige Geviert des Blattes gliedert, sondern eine eigene Dramaturgie besitzt, die dazu führt, dass man das Blatt als energetisches Feld erfährt. Gerade durch die in diesem Blatt evident werdende Offenheit der zeichnerischen Sprache, gekoppelt mit einem mitunter radikal anmutenden Wechsel der verwendeten Zeichenmittel (Bleistift, Farbstift, Kugelschreiber, Kreide, Tuschen, Acryl- und Ölfarbe) gewinnen Müllers Zeichnungen ihren unverwechselbaren Stil.

Wie die meist gruppenförmige Anordnung seiner Werke in Ausstellungen belegt, kommt dem Zusammenwirken einzelner Blätter eine besondere Bedeutung zu. Es entstehen zwischen den Blättern, die an der Wand zu Ensembles vereint werden, Querverweise und Brechungen der in den einzelnen Arbeiten entwickelten Motive. Die fast ausnahmslos hochformatigen Zeichnungen der letzten Jahre sind meist von einheitlicher Größe (DIN A 4). Hinzu kommen, in Fortführung der seit Beginn der 1990er Jahre entstehenden Folge großformatiger Zeichnungen, seit einigen Jahren auch Blätter auf Büttenpapier des Maßes 160 x 115 cm.

Zu den vor allem in den Jahren 2007 und 2008 entstandenen Werken, die in diesem Katalog zu den aktuellen Ausstellungen in Zürich und Paris unter dem Titel „Gezeiten“ zusammengefasst werden, zählen acht dieser großen Blätter. Sie lassen im Hinblick auf ihre Formelemente untereinander strukturelle Ähnlichkeiten erkennen. Man betrachte den Einsatz paralleler oder auch strahlenförmig gebündelter Linien, der trotz teilweise unterschiedlicher Zeichenmittel auch in vielen der kleineren Blätter (Abb. S. 25, 28, 52, 65, 74) zu finden ist. So entsteht etwa in den Werken, die mit Acrylfarbe oder Kreide entwickelt wurden, eine Art ‚Gewebe’, das allerdings nicht nur durch die lebendige Linienführung der freien Hand aufgelockert wird (vgl. aber auch den Einsatz von Glassscherben als Lineal in Abb. S. 23, 52), sondern auch durch fließende Richtungswechsel im Linienverlauf, die zu einer modulierten, abgestuften Struktur des Gewebes führen können. Diese wird in manchen Blättern weiter aufgelöst: So driften bisweilen einzelne Linien in verschiedene Richtungen auseinander, verwirren oder entflechten sich. Damit wird die über eine gewisse Strecke erzielte Parallelität der Linien wieder aufgehoben (vgl. etwa Abb. S. 31, 57).

Wie diese Beispiele zeigen, sind bei Thomas Müller nicht alle Werke trotz des immer wieder neu eingegangenen Wagnisses der Bildfindung, die auch zu formal scheinbar isolierten Arbeiten führen kann, als völlig voraussetzungslose, spontane Erfindungen zu begreifen. Es gibt – über die Zeit hinweg – durchaus Leitmotive, die aber, wie gesagt, fragmentiert, aufgelöst oder von anderen zeichnerischen Setzungen auf dem Papier unterwandert, „gestört“ oder konterkariert werden. Auch der Wechsel des Zeichenmaterials, etwa vom Bleistift zur direkt aus der Tube auf das Papier gedrückten Farbe, fügt diesem Prozess Wesentliches hinzu. Das einzelne Blatt ist also bei Müller, wie bereits Stefan Gronert feststellte, in einem weiteren Zusammenhang zeichnerischen Denkens und Sprechens verortet: „Wenngleich jede Abbildung einzeln zu betrachten ist und somit einen individuellen Anspruch besitzt, dementsprechend also eine eigene Zuwendung verlangt, scheinen die unterschiedlichen Zeichnungen doch aufeinander zu verweisen. Sie bilden … ein Geflecht von Bezügen aus, indem sie doch aufeinander zu antworten scheinen. Heuristisch ließe sich dieser Zusammenhang als eine Art der Familienähnlichkeit beschreiben.“1

Wenn man nach dem eigentlichen Gegenstand der Zeichnung bei Thomas Müller fragt, so liegt es nahe, diesen nicht innerhalb der Figurationen und Bilder unserer Wirklichkeit (oder einer imaginierten) zu suchen. Es wäre aber auch problematisch, Thomas Müller einfach einen abstrakten Zeichner zu nennen. Voreilig wäre es, im Hinblick auf seine Zeichnungen, „eingeführte Begriffe, wie abstrakt, non-figurativ etc. in Anwendung zu bringen, sie greifen zu kurz und rufen Vergleiche auf, die nicht stimmen. Seine Zeichnungen haben durchaus etwas Figuratives, auch Erzählerisches und sind nicht abstrakt, auch wenn wir von alledem nichts zu Gesicht bekommen, ist es ihnen inhärent.“2 Letztendlich jedoch muss der Betrachter das konkrete, ihm vor Augen stehende Werk zur Richtschnur des Sehens (als wahrnehmender Nachvollzug von Müllers zeichnerischer Feldforschung) erheben. Wobei mit Eugen Blume zu betonen ist: „Der Akt des Wahrnehmens – und bei Zeichnungen sind wir in einer besonders hohen Form der Wahrnehmungskultur – verlangt von uns vor allem Achtsamkeit. Achtsamkeit gegenüber dem was ist, nicht was wir uns dazu denken.“3

Viele Zeichnungen von Thomas Müller zwingen den Betrachter regelrecht zur Achtsamkeit, gerade dann, wenn per se immer vereinfachende Assoziationen an Außerbildliches (zum Beispiel Landschaftliches) wenig produktiv oder gar unmöglich sind, so dass man angehalten ist, zu sehen, was man sieht. Was etwa erleben wir an zeichnerischem Geschehen in den drei Zeichnungen auf den Seiten 4, 9 und 18? Alle drei Blätter unterscheiden sich von den Werken, bei denen die Blattfläche von Linienfeldern geprägt wird (Abb. S. 74, 79), dadurch, dass an einer bestimmten Stelle auf dem ansonsten kaum oder gar nicht bezeichneten Papier eine Form herausgearbeitet wird, die vage als ‚Verdichtung’ erlebt wird. Im dem Blatt auf Seite 4 wird diese Konzentration der zeichnerischen Bildfindung schon über den Verlauf der beiden hellgrünen Linien, entstanden durch den direkten Auftrag der Tubenfarbe, markiert. Diese Linien, von links aus divergierenden Richtungen in das Blatt hineinlaufend, fassen in der rechten Blatthälfte eine mit dem Bleistift angelegte horizontale Schraffur ein, die eine querrechteckige Fläche entstehen lässt. Diese wird seitlich durch senkrecht verlaufende Bleistiftstriche im Blatt verankert. Die linke Verankerung, aus einer Doppel-Linie bestehend, markiert dabei exakt die vertikale Mittelachse des Blattes. Zudem hat Müller das rechteckige Feld mit einer annähernd kreisenden Linie noch einmal akzentuiert. Die Bewegungsbündelung in diesem Rechteck, das mit der oberen grünen Linie an einer Stelle mittels einer kleinen, gitterartig aufgebauten Bleistiftschraffur verbunden ist (man ist geneigt, ‚festgezurrt’ zu sagen), erfährt weitere Verstärkung: Diese leistet ein breiter, mit dem Pinsel gezogener Strich verdünnter weißer Acrylfarbe, der eine unaufdringliche und doch entschiedene Präsenz entfaltet und zwischen den beiden Umfassungslinien, von links nach rechts gelesen, eine zackenförmige Bewegung ausführt, ehe er am rechten Blattrand, nach rechts steil ansteigend, diese Umfassung überwindet und das Blatt verlässt. Kurz zuvor allerdings trifft der Pinselstrich, in fallender Bewegung, in der schraffierten Zone auf die untere Einfassungslinie, die in ihrem Verlauf die besagte Zone auch insofern betont, als sie diese wie ein Sockel unterfängt.

Wie dieses Blatt, aber auch die Zeichnung auf Seite 18 belegen, verknüpft Müller in einer Reihe von Werken explizit malerische und zeichnerische Elemente. Sie werden in eine bei aller Freiheit und Lebendigkeit der Setzung präzise Interaktion gebracht. Wie auch das Blatt auf Seite 9 bezeugt, entstehen dabei vereinzelt objekthafte Gebilde, die vielleicht an kleine ‚Apparate’ erinnern, welche jedoch nur als und in der Zeichnung denkbar sind.

Thomas Müller erschafft im Prozess des Zeichnens als Anlagern, Annähern, Überlagern, Unterwandern, Kollidieren und Auslöschen von linearen und flächigen Komponenten seine eigenen Fragestellungen (als Feldforschungen), womit er die Zeichnung und den Zeichenakt selbst zum alleinigen Thema erhebt.
Mit dem Titel „Gezeiten“, der die allesamt unbetitelten Zeichnungen der Ausstellungen in Zürich und Paris in offener Programmatik vereint, wird von Thomas Müller die Natur zum Bezugspunkt erhoben. Dabei geht es jedoch nicht darum, im Cézanneschen Sinne Kunst als eine „Harmonie parallel zur Natur“ zu definieren, die sich aus der künstlerischen Analyse der vor und von der Natur empfangenen Sinneseindrücke speist. Müller entwickelt seine Kunst vielmehr als permanente, immer wieder neu geführte Untersuchung zur Natur der Zeichnung, die jeder illusionistischen Abbildfunktion enthoben ist und somit ‚zu sich’ kommt.

„Gezeiten“ ist dabei für den Künstler eine Metapher für sein eigenes Handeln als Zeichner. Er selbst betont: „Eine … Konnotation von ‚Gezeiten’ betrifft das Naturhafte und die stetige, zyklische Wiederkehr des immer Gleichen. Das betrifft … meine Art zu arbeiten als ein stetiges, tägliches Geschehen (auch das Arbeiten an immer gleichen Formatgruppen), wobei in einem zyklischen Wechsel bestimmte Motivkreise in anderer Form immer wiederkehren.
Anziehung und Abstoßung, Einatmen - Ausatmen, Wucht und Sanftheit sind Pole, zwischen denen meine Arbeit oszilliert. So sehe ich sie auch weniger in einer linearen Entwicklung, sondern eher als eine spiralförmige Bewegung.

Ich habe den Eindruck, dass meine Arbeit ihre Energie und Vitalität aus diesen Polaritäten und Spannungen geradezu generiert, d.h. ich brauche und benutze diese unterschiedlichen Pole, um weiterarbeiten zu können, um meiner Arbeit immer wieder und stetig Energie zuzuführen: also der energetische Aspekt von Ebbe und Flut.“4
Diesen naturähnlichen, dialektischen und kreativen Prozess verdeutlichen die Blätter der „Gezeiten“ eindrucksvoll. Das Fließen, Einlagern oder Bündeln von Energien, die aus dem Gestaltakt der Zeichnung und ihren wesentlichen Artikulationsmöglichkeiten als non-verbale Sprache erwachsen, machen Thomas Müllers Werk im Kontext der Kunst unserer Zeit so einzigartig und essenziell. Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse seine Forschungen im Feld der Zeichnung noch hervorbringen werden.

1 Stefan Gronert, Offen werdend. Betrachtungen zu den Zeichnungen von Thomas Müller, in: Thomas Müller Dreißig Zeichnungen · Stefan Gronert Offen werdend, Stuttgart 2000, S. 9-14, hier S. 10f.

2 Eugen Blume, Gedankenfreie Achtsamkeit, in: Kunstmuseum Bonn (Hrsg.): Zeichnung heute IV: Thomas Müller, Ausst. Kat. Kunstmuseum Bonn 2003, S. 9-16, hier S. 10.

3 Ebda., S. 12.

4 Mail von Thomas Müller (20.10.2008) an den Verfasser.

© Andreas Schalhorn