in: Zeichnung heute IV, Thomas Müller (Ausst.Kat.), Kunstmuseum Bonn 2003

In der Zeichnung ist keine Lüge mehr möglich. Wenn man diesen hohen Satz niederschreibt, klingt es nach einem moralischen Postulat. Wer aber könnte im Angesicht einer Zeichnung über Moral, über moralische Qualitäten des Zeichnens sprechen? Lüge ist hier nicht von einem moralischen Standpunkt aus definiert, sondern von der Unmittelbarkeit, von dem Selbst des Gezeichneten aus verstanden. Jede Zeichnung, die auf etwas Äußeres aus ist, darauf spekuliert, gefallen zu wollen, wird eventuell sogar als virtuos bezeichnet oder als dekorativ, sie wird aber jenes Energiefeld nie erreichen, das frei von aller Bedeutung aus dem Material heraus den Geist bewegt. Das Material der Zeichenkunst aber ist verglichen mit der Malerei äußerst dürftig. Was ist eine Bleistiftlinie auf dem Papier im Vergleich mit einem pigmentgesättigten Öl, das der Pinsel auf einer Leinwand vertreibt? Gleichwohl die Zeichnung lange Zeit in der Nähe der Malerei gesehen wurde, wenn auch nur als Hilfsmittel, ist sie beinahe am weitesten entfernt. Sie ist - um es einmal zuzuspitzen - das Gegenteil von Malerei, auch wenn wir etwa bei Cy Twombly von skripturaler Malerei sprechen. Malerei ist nie unmittelbar, weder im Material, noch im Auftrag der Farbe, noch in der Zeit. In der Malerei können und wollen wir nicht dem Prozess ihrer Entstehung folgen - er bleibt für unser Urteil unerheblich - sondern der Psychologie der Farben und der Gestalt. In der Zeichnung müssen wir ihrer Prozesshaftigkeit gewahr werden, dem Ausdruck der Linie nachgehen, was ein hohes Maß an Sensibilität verlangt. Zeichnungen sind im Vergleich mit den anderen Medien der bildenden Kunst Kammerspiele, leise Auftritte, die dem lärmenden Betrieb wenig Sensation bieten.
Immer wieder wurde über das Ende der Malerei gesprochen, über ein mögliches Ende der Zeichnung hat noch niemand spekuliert. Vielleicht weil die Zeichnung als naturgemäß lichtscheues Medium in den White Cubes der zeitgenössischen Moderne weniger Chancen hat. Dennoch gibt es Versuche dem abzuhelfen, die Zeichnung als erzählerische Sensation bis hin zu großangelegten Wandarbeiten wie bei Raymond Pettibon in die Konkurrenz zu stellen.
Die Zeichnungen von Thomas Müller stehen in einer anderen Tradition, die wiederum, trotz dieser Behauptung, schwer zu benennen ist. Es widerstrebt mir, eingeführte Begriffe, wie abstrakt, non-figurativ etc. in Anwendung zu bringen, sie greifen zu kurz und rufen Vergleiche auf, die nicht stimmen. Seine Zeichnungen haben durchaus etwas Figuratives, auch Erzählerisches und sind nicht abstrakt, auch wenn wir von alledem nichts zu Gesicht bekommen, ist es ihnen inhärent.
Thomas Müller, der nicht nur Germanistik studiert hat, sondern auch ein starkes Interesse an Literatur bezeugt, erzählt auf eine andere Weise. An diesem Punkt könnte man der Versuchung erliegen, eine nicht erlaubte Übersetzung zu wagen, die den Begriff des Poetischen aus der Literatur auf die Zeichnung transferiert. Wenn Zeichnungen poetisch sind, dann hat das nichts mit Literatur gemein. Literatur beschreibt - dazu sind wir der Sprache mächtig - nicht nur den Raum, in dem Poesie entsteht, wie immer ihre Mittel sein mögen, sondern transzendiert sich ins Poetische. Literatur tilgt das Handgeschriebene in der Neutralität gedruckter Lettern - dass das Schreiben der Zeichnung verwandt ist, bleibt unbestritten - löscht also, wenn man so will, die Zeichnung aus. Die Übersetzung aus der bloß dienenden grafischen Gestalt ist vor allem gegenständlicher Natur, das Poetische hingegen hält sich in den Beziehungen des Gedachten auf. In der Zeichnung ist das Poetische an die Materialität des Strichs gebunden, Verlöschendes ist verlöschender Strich, Aufstrebendes ist aufstrebender Strich, Fallendes gleichermaßen.
Wir wissen, dass Schelling sogar von einer poetischen Physik sprach, einen Begriff, den ich mehr noch in der Nähe der Zeichnung sehe, als die literarische Poesie. Was der Zeichnung näher steht als Geschriebenes, obwohl selbst Geschriebenes zu einem anderen Zwecke, ist die Partitur. Die Lesbarkeit der Partitur, ihre Übersetzung in Musik, ist der Zeichnung verwandter, als die Schrift, die lediglich eine psychologische Nähe aufweist. Natürlich können wir ein handgeschriebenes Textblatt als Zeichnung sehen, im Strich die Verfassung des Autors empfinden. Wir bleiben aber bei alledem unter dem allein angestrebten Ergebnis, etwas in Worte fassen zu wollen und seinen Inhalt weiter zu geben. Die Partitur führt zu einem Klang, zu einem hörbaren Raumerlebnis, das ebenso unlesbar bleibt, wie eine Zeichnung. Sieht man Beethovens späte Notenschrift, nach seinem Taubwerden, fällt auf, dass das Sehen der Musik, das Hören der gezeichneten Partitur seine Hand führte.
Greifen wir eine Zeichnung (Abb. S. 28) von Thomas Müller heraus, ein großes Blatt von 114 cm Höhe und 180 cm Breite. Auf Papier ziehen sich in unregelmäßigen Abständen Kreidelinien von links nach rechts in leichten Schwüngen, wie Wasserlinien auf einem See, wenn der Wind nur mäßig weht. (Ein anderes, vergleichbares Naturbild, das uns womöglich einfallen könnte, sind die Strömungslinien eines schnell fließenden Gewässers). Von links oben fließen weitere Linien steil in die horizontale Linienmenge ein, um schließlich in deren waagerechten Verlauf einzumünden. Wir könnten, um bei Wasser zu bleiben, an einen Wasserfall denken. Es ist aber nicht wirklich die Assoziation Wasser, die uns dieses Bild gleichsam erläutert, sondern das Fließen der Linien selbst, ihre Bewegung, die in uns eine vertraute Situation aufruft. Würden wir etwa versuchen, mit der Hand in der Luft die Linienzüge nachzuahmen, würden wir uns als einen Dirigenten empfinden und fast den anhaltenden Ton hören, wie er von einer Höhe hinunter geht zu tieferen Lagen. Es bleibt die Empfindung eines reinen Klangs, der als gleichförmige Linie durchgehalten ist, ein Aufenthalt im ewigen Strom des Fließens, in der Bewegung ohne lesbare Zeit.
Eine andere Zeichnung (Abb. S. 10), fast genau so groß, neben Kreide noch Tusche und Ölstift, die Linien stärker, die fließende Bewegung nicht von links nach rechts - unserer gewohnten Leserichtung - sondern von rechts nach links. Wir sehen sie fallend, aufsteigend nur, wenn wir von links nach rechts sehen. Die steil ansteigenden Linien hindern uns aber eine steigende Bewegung zu empfinden, unsere Konvention zwingt uns, die Fließrichtung als ein Hinunterströmen wahr zu nehmen. Der Akt des Wahrnehmens - und bei Zeichnungen sind wir in einer besonders hohen Form der Wahrnehmungskultur - verlangt von uns vor allem Achtsamkeit. Achtsamkeit gegenüber dem was ist, nicht was wir uns dazu denken. Dieses intelligente, aus dem Denken kommende Verfahren, aus dem Eigentlichen auszutreten und sich nur noch in der Idee aufzuhalten, die wir von der Zeichnung haben, gehört zu unserem Unvermögen, achtsam zu handeln. Es genügt unserem analytischen Denken nicht, die Leere zu akzeptieren. Vermeintlich gibt es hier keinen Ertrag, für den es sich lohnt, etwas zu betrachten. In der östlichen Kultur sind das Nichtdenken und die Leere vertraute Vorstellungen, die einzig dazu dienen, dem Leben eine höhere Qualität zu geben. Das Sutra der „Vier Verankerungen der Achtsamkeit“ zum Beispiel scheint mir für das Empfinden (nicht für das Verstehen) von Zeichnungen besonders nützlich (- ohne in eine esoterische Attitüde fallen zu wollen). Achtsamkeit hieße hier sich in das unmittelbare Sein der Linie zu begeben und die Linie als solche ohne jede Ablenkung wahr zu nehmen. Die Stärke dieser Zeichnungen kommt m. E. aus eben dieser Praxis, beim Zeichnen diese Linie zu meinen und sonst nichts. Das erwähnte Sutra ist vor allem eine Meditationspraxis, die versucht, in der Achtsamkeit bestimmten Regionen unseres Körpers gegenüber alles auszuschließen, was uns ablenkt, besonders unsere Gedanken, die uns stets in ihre Flüchtigkeit hinein ziehen wollen. Als Betrachter steht man zunächst einmal vor der Aufgabe, der Zeichnung einen Sinn zu geben, ihr einen Ertrag für sich selbst abzuringen. Wenn eine Zeichnung aber unseren gewohnten (Informations-) Ertrag nicht bereitzustellen vermag, müssen wir einen Weg finden, sie dennoch lesen zu können.
Kein Text würde es vermögen, eine Übersetzung zu liefern. Er kann nur Beispiel sein, wie sich ein Empfinden formulieren könnte, das wiederum ganz und gar an die Person gebunden ist, die sich einer Zeichnung anzunähern versucht. 
Eine der DIN A4 großen Zeichnungen zeigt auf weißem Grund zwei kleine, gegenüberliegende, mit schwarzer Tusche gezeichnete Gitterstrukturen. Das linke Gebilde ist dichter, die untere Linie sogar zu einem Fleck verlaufen, während auf der rechten Seite die Striche klarer und regelmäßiger gesetzt sind. Zwischen beiden ist ein waagerechter Strich gezogen, der jeweils bis in die Mitte der beiden Figuren reicht. Links oben und in der Mitte über dieser Figuration schweben drei unterschiedlich große, fast unabsichtlich erscheinende Tusche-Flecken. Unser Auge sieht die Flecken zusammen und erfindet sich eine Bewegung, die auf bestimmten Seherfahrungen beruht. Durch den unteren Fleck bekommt der obere einen Grund für seine Bewegung auf der weißen Fläche, die wir in der Logik dieser Interpretation als Raum verstehen könnten. Er ist gleichsam herauskatapultiert. Die beiden kleinen über ihm sind zeitlich früher und damit schon weiter entfernt. Wir sehen einen Bogen und eine Produktion, die offenbar kontinuierlich schwarze Körper in den unendlichen Raum entlässt. Die beiden miteinander verbundenen Gitterwerke sind die Energiequelle, das Kraftwerk dieser sich uns nicht weiter erschließenden Bewegung. Dass wir gewillt sind, den beschriebenen Verlauf zu empfinden, hängt zunächst mit der Bereitschaft zusammen, dieser reduzierten und für manches ungeschulte Auge als solche gar nicht wahrnehmbare Zeichnung achtsam gegenüber zu treten. Es ist nicht nur die Erzählung einer Bewegung, die uns an viele real sich vollziehende Bewegungen denken lässt, die eine Empfindungsnähe herstellt, sondern, wenn wir noch genauer zu sehen beginnen, das psychographische Moment der Zeichnung. Es gehört zu unseren Erfahrungen zu wissen, wie es ist, wenn man einen Stift, Feder u. dgl. auf ein Papier aufsetzt und eine Linie zieht. Diese Empfindung des Aufsetzens, der unmittelbaren Kontaktaufnahme mit dem Schreib- oder Zeichen-Grund und der Bewegung, die zu einer Linie, Kreis, Buchstabe, Note etc, führt, schwingt im Lesen oder besser Sehen mit. Sie reichte vollkommen aus, um zu verstehen. Eine Zeichnung existiert eigentlich nur, weil der Zeichner über alles Gedankliche hinaus gekommen ist. Unsere Sucht, das Allsein der Dinge durch Zuweisung eines Ortes aufzuheben, ist bezogen auf die Zeichnung eine negative Rezeption. Durch die Rückkehr des Gedanklichen nehmen wir der Zeichnung ihre Radikalität. 
Wenden wir uns noch einem weiteren Blatt zu (Abb. S. 23), ebenfalls eine DIN A4 große Zeichnung im Hochformat. Waagerecht sind dichte Lagen mit einem blauen Stift gezogen, sie schwingen hin und her wie seismographische Aufzeichnungen. 
Das Wort seismographisch lässt uns automatisch an eine Aufzeichnungsmaschine denken, die unseren Herzschlag, das Klima oder Beben der Erde aufzeigt. Wir können diese mechanisch verfassten Zeichnungen auswerten, ihnen Daten hinzustellen und Schlüsse daraus ziehen. Bezogen auf unsere Existenz wissen wir, dass die waagerecht durchgezogene Linie des Kardiogramms unser Lebensende bedeuten würde, dass sie den Stillstand unserer Körperfunktionen in einer einfachen Zeichnung abzubilden vermag. Die Linien der Nadeln sind jedoch trotz ihrer existentiellen Zeichenhaftigkeit ohne jeglichen Charakter, sie sind gleichförmig durchgezogen, sie zeigen uns nichts anderes, als wissenschaftlich verwertbare Daten. Dennoch lesen wir sie nicht nur rational, sondern empfinden ihren gesamten Bedeutungsinhalt, wir empfinden das Beben der Erde, auch wenn wir es niemals erlebt haben, wir empfinden das Ende einer Existenz, bevor wir selbst an dieses Ende gelangt sind. Was aber sagen uns die blauen, rhythmisch gezogenen Linien der Zeichnung des Künstlers? Bei genauerer Betrachtung spüren wir die Hand, wir sehen, wie sie abbricht, um dicht über der unteren Linie neu anzusetzen. Wir sehen auch, dass die blauen Striche nicht homogen sind, nicht gleichbleibend durchgeschrieben, sondern stärker und schwächer werden, dass sich offenbar der Druck des Stiftes verändert hat. Die Hand des Zeichners ist kein mechanisch eingestelltes Instrument, sondern folgt einer uns kaum vorstellbaren, aus komplexen Zusammenhängen resultierenden Bewegung. Das Resultat ist eine psychographische Struktur, die vor allem Befindlichkeiten abbildet, für die wir keine Sprache haben. Der sich durchziehende, scheinbar einfache Rhythmus der Zeichnung registriert das innere Klima, das Beben der zeichnenden Person, ohne dass ein Psychiater oder Neurologe diagnostisch verwertbare Schlüsse ziehen könnte. Es handelt sich nicht um einen entschlüsselbaren Code, sondern um eine unmittelbare Übertragung, die als Bild dieses inneren Zustandes empfunden werden kann. Die Aufnahme dieser Zeichnung erfordert wiederum das, was zu ihr geführt hat, die Mobilisierung der inneren Welt einer Person, in diesem Falle, die des Betrachters. Das Verfertigen einer solchen Zeichnung kann nur jenseits der Gedanken erfolgen - ähnlich wie die erwähnte Meditationspraxis des Sutra „Der Vier Verankerungen der Achtsamkeit“ es verlangt. Die mit dem Atmen einhergehende Meditation richtet ihre Aufmerksamkeit unmittelbar auf das, was sich ereignet, ohne Bewertung. Sie lässt zu, was ist und betrachtet es, ohne jedwede Ideologie. Der Strich oder die Linie einer Zeichnung erlangen ihre Kraft aus dem Eins-Sein der Hand mit dem was sich beim Zeichnen ereignet. Das Sich-Ereignende aber findet seinen alleinigen Ausdruck in der Niederschrift. Es wird nicht bewertet, es durchläuft keine gedankliche Läuterung, sondern ist, was es ist. Diese Vorstellung ist unserem dualistischen Weltverständnis äußerst fremd. Es bedeutet das Ablassen von einem uns beherrschenden analytischen Welt-Denken. Vor allem heißt es loszulassen und sich nicht zu binden an eine Interpretation, an eine Bewertung. Natürlich kann eine Zeichnung in dieser Weise nur sprechen, wenn sie selbst aus dieser Freiheit heraus entstanden ist. Die Zeichnungen von Thomas Müller haben diese innere Freiheit. Ihr Wagnis, in der äußersten Reduktion zu verharren, der kompromisslosen Eingrenzung der Mittel zu folgen, gelingt über die gedankenfreie Achtsamkeit im Zeichnen selbst. Worte, die der Ausdruck von Gedanken sind, haben hier wenig verloren, sie sind lediglich eine Revision dessen, was bei sich bleiben will, nämlich in der Zeichnung und eben nicht im Wort und nicht im Gedanken.

© Eugen Blume