In: Thomas Müller, Different Lines (Ausst.Kat.), Patrick Heide Contemporary Art, London 2015
In meiner Kindheit gab es sie noch – die weißen Flecken in den Atlanten, in meinem Fall, im „Diercke Weltatlas“ meiner älteren Schwester. Meist abgelegen in Zentralafrika oder in den Urwaldregionen Südamerikas anzutreffen, waren sie als „unerforschte Gebiete“ ausgewiesen, kartographische Fehlstellen ohne Höhenlinien und Vegetationshinweise, die meine kindliche Phantasie aufs Stärkste beflügelten. Welche Abenteuer würde man erleben, wenn man dort nur hinkäme! Diese - ja letztlich nur dem menschlichen Unwissen geschuldete – „Leere“ schien mir jedenfalls ein großes Versprechen zu sein und ich denke mir oft, dass auch Künstler diese magische Anziehungskraft spüren müssen, wenn sie eine leere Leinwand oder ein weißes Blatt Zeichenpapier vor sich sehen. Welche Entdeckungen werden sich hier machen lassen? Jeder Gestaltungsschritt ist ja ein Vorstoß in unerforschtes, undefiniertes Terrain, das künstlerisch erkundet wird und damit ein Stück seines Geheimnisses preisgibt. Im Besonderen gilt dies auch für Thomas Müllers Werk, für seine sensiblen Papierarbeiten, die nie mit großen Gesten aufzutrumpfen suchen, solchermaßen das souveräne Künstlersubjekt feiern. Stattdessen erweisen sich seine Zeichnungen als vielschichtige Relationsgefüge, die sich einem behutsamen, Aktion und Reaktion verbindenden Gestaltungsprozess verdanken. Müller reflektiert dabei sowohl das Geformte der mal tänzelnden, mal strömenden, dann wieder mäandernden Linien – die allesamt zum Basisrepertoire seiner Kunst zählen! – als auch die vorgegebene Identität der Blattfläche, die nie einfach benutzt, gestalterisch kolonialisiert wird. Wie wäre dies auch möglich, ist das Blatt doch kein Neutrum, sondern ein, schon durch die Abschattierungen des Weiß „farbig“ und maßstäblich definiertes Etwas. Es besitzt folglich seine eigenen formalen Qualitäten, die Thomas Müllers Zeichnungen durchgängig respektieren. Insofern meidet er die autokratische Besetzung der Bildmitte (1), ebenso wie die kompositionelle Hermetik einer abgezirkelten, Figur wie Grund einschließenden Bildarchitektur. Seine Kunst sucht keine Verfestigungen, keine strukturelle Evidenz, sie definiert sich vielmehr als eine Suchbewegung in einem offenen Raum. Als Sensorium dieser Suchbewegung dient ihm, wie oben bereits angesprochen, die Linie, die in das Bildfeld vorstößt, sich in ihm bewegt, ohne es freilich zu vermessen oder gar konstruktivistisch zu systematisieren. Entsprechend tauchen geometrische Elemente, linear-konstruktive Bauteile in seiner Kunst höchst selten auf und wenn dies mal der Fall ist – wie in zwei großformatigen Farbstiftzeichnungen des Jahres 2005 (2) – dann werden sie a-tektonisch verwendet, zu reichlich wackeligen Türmen aufgestapelt. Von der Gesamtform nie gänzlich kontrollierbar, erlangen die an sich klar definierten, da messbaren Linien in diesen Arbeiten ein merkwürdiges Eigenleben. Sie oszillieren seismographisch zu den Seiten und aktivieren dadurch das Weiß des Blatts, das nicht nur in diesen Werken eine eigene Ausdrucksqualität erlangt. Mehr als nur ein Nachhallraum des gestalterischen Eingriffs schiebt er sich seinerseits in das Blau der Farbstiftzeichnung, so dass Figur und Grund eine ebenso vitale wie spannungsvolle Wechselbeziehung entwickeln. Man sieht: bei aller zeichnerischen Sensibilität neigt Müllers künstlerisches Schaffen keineswegs zu falschen Harmonisierungen, was letztlich wohl daran liegt, dass er das energetische Potential, das die Linie als gestreckte „Form“ grundsätzlich kennzeichnet, konsequent nutzt. Augenscheinlich ist sie, die Linie, für Müller weniger ein Strukturelement, als ein raumgreifender Impuls, was ein weiteres Beispiel illustrieren kann. Ich denke an ein unbetiteltes Aquarell des Jahres 2013 (3), das, speziell im Bezug zur Blattfläche, eine ganz eigene Dramaturgie entfaltet. Zu den formalen Akteuren dieser Arbeit zählen zwei graue, die Bildfläche durchlaufende Pinselstriche, die einen breiteren, grünen Pinselzug – der sie partienweise überlappt – rahmen. Leicht links von der Mitte verdichtet sich sein Farbauftrag in einer tiefgrünen Farbinsel, die nicht nur in der Lage ist, die „Klammer“ seiner grauen Begrenzungen (nach links hin) zu sprengen, sondern auch dem Druck der annähernd rechteckigen Weißflächen oben und unten Paroli zu bieten. Einmal mehr ist der Zeichengrund nämlich hier Teil der Komposition, Widerpart und Dialogpartner der Linie, die die Fläche zwar aktiviert, aber nicht okkupiert. Denn was sind diese Pinselzüge im Vergleich zu dieser Fläche? Ein zeichnerisches Ereignis zwar, aber doch etwas Episodisches, ein ‚Durchlaufposten‘, der in einem spannungsvollen Kontrast zum vertikalen Format des Blattes steht. Dies Gegeneinander von Blattformat und zeichnerischem Eingriff ist ein Charakteristikum mancher seiner Papierarbeiten, auch wenn das Tempo und die Dynamik der Linienzüge recht unterschiedlich sein können. Ein Gegenbeispiel zu dem eben zitierten Aquarell wäre daher eine Kugelschreiberzeichnung des Jahres 2014 (4), die im Bildraum großzügig ausschwingt. Sie ist das Resultat eines zeichnerischen Verfahrens, das Thomas Müller seit seinem Aufenthalt in Marfa, Texas im Jahr 2003 anwendet. Er benutzt dabei eine gebrochene Scheibe als Schablone, um ihren kurvigen Verlauf mit einem Kugelschreiber nachzuzeichnen. Indem er die Scheibe immer wieder ein Stück versetzt (und den Druck auf den Stift variiert), erlangen die Linien in der Summe eine Plastizität, die Müller noch dadurch steigert, dass er das Blatt nach einer Weile umdreht und nach bekannten Verfahren weiterzeichnet. Auf diese Weise verbinden sich die Teilformen zu einem verschoben-rautenförmigen Gesamtbild. Ebenso elastisch wie wandelbar beschreibt seine Form den Ausschnitt aus einem prinzipiell unendlichen Weißraum, das glückliche Erfassen eines ungreifbaren Etwas, das schon im nächsten Moment eine ganz Gestalt annehmen könnte. Ganz offensichtlich bewahrt die Linie ihre Spannkraft und verleiht damit dieser Zeichnung eine geradezu atmende Lebendigkeit. „Festigkeit“, so scheint es, ist keines von Müllers Gestaltungszielen, vielmehr definieren sich seine Papierarbeiten als hoch komplexe ästhetische Versuchsanordnungen. Ihr Modus ist der Konjunktiv, die Möglichkeitsform, die den Typus des durchstrukturierten, hermetischen Kunstwerks ausschließt. Betrachtet man Müllers Zeichnungen, so sieht man Kräftekonstellationen, deren Energien nicht auf das Einzelwerk beschränkt sein müssen. Von daher überrascht es nicht, dass Müller seine Arbeiten immer wieder zu mehrteiligen Tableaus oder Wandabläufen zusammenführt. In ihnen inszeniert sich ein Wechselspiel der Kräfte für das die Übergänge, die Lücken und Fehlstellen in der Textur fast ebenso bedeutsam sind wie die gestalteten Partien. Denn die Leere bietet den nötigen Resonanzraum für den Dialog der Formen, die auch ihrerseits den Bezug zum Ungestalteten suchen. Welche Entdeckungen sind hier mit Aquarellpinsel und Zeichenstift noch zu machen? Mit Blick auf Thomas Müllers Kunst mag man getrost sagen: viele! Ausgestattet mit einer souveränen Gestaltungskraft und getragen von der Neugier des Entdeckers, wird er dem Medium und seinen „unerforschten Gebieten“ auch in Zukunft noch manches Geheimnis entlocken können.
Anmerkungen
1. Eine Ausnahme von der Regel wäre etwa o. T., 2014, Bleistift, Tusche, Acrylfarbe auf Papier, 29,7 x 21 cm
2. Beide Arbeiten befinden sich im Eigentum des Kunstmuseums Stuttgart. Ihr Titel lautet jeweils o. T., 2005, blauer Farbstift auf Papier, 250 x 157 cm
3. o. T., 2013, Bleistift und Acrylfarbe auf Papier, 29,7 x 21 cm, Privatsammlung
4. o. T., 2014, Kugelschreiber auf Fabriano Bütten, 196 x 140 cm, Privatsammlung
© Christoph Schreier