Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Thomas Müller, Wellen und Teilchen - Zeichnungen"
am 9. März 2010 in der Galerie Parterre, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lassen Sie mich ein wenig ausholen, sozusagen einen historischen Kreis ziehen, eine kreisende Form wählen, die mir zu dem Thema dieser Ausstellung besonders zu passen scheint. Um Zeichnungen lesen zu können, müssen wir uns in unserem Zeitalter der Handlosigkeit, der Rolle der Hand erst wieder vergewissern, denn wir sind allgemein dabei, unsere Hände, wie unseren Körper insgesamt zu vergessen.
Am Ende des 14.Jahrhunderts, in der so genannten Renaissance, bricht die verstandesmäßige Betrachtung der Welt mit ungeheurer Kraft in den Raum hinein und verändert alles, auch das Denken und Empfinden über den Menschen, der erstmals als ein Subjekt gedacht wird. In den Bildwerken dieser Zeit steht der Mensch perspektivisch in den Maßverhältnissen des Landschafts- und Stadtraumes. Auch psychisch ist er nunmehr geometrisch angelegt, das Gesicht hat Fluchtlinien, die nach innen gezogen, sich in der Seele des geistigen Individuums treffen. Die Augen, die selbstbewußt aus den Bildern schauen, sind gleichzeitig die Fenster in das eigene Dunkle. Aber nicht nur das Gesicht ist zur Seelenlandschaft geworden, auch die Hände sind in den neuen Bildern erstmals sprechende Gliedmaßen. Das mechanische Greifen und das formlose Ruhen der Hand sind über ihren höchstmöglichen mittelalterlichen Ausdruck hinaus, den Segensgestus des Weltenherrschers, zum Ort aller Empfindungen geworden. Rainer Maria Rilke schrieb jenes unvergleichliche Gedicht über die Hände, das er Handinneres nannte und das deren neue Physiognomie bis in die Moderne hinein umfaßt:

Innres der Hand. Sohle, die nicht mehr geht
als auf Gefühl. Die sich nach oben hält
und im Spiegel
himmlische Straßen empfängt, die selber
wandelnden.
Die gelernt hat, auf Wasser zu gehn,
wenn sie schöpft,
die auf den Brunnen geht,
aller Wege Verwandlerin.
Die auftritt in anderen Händen,
die ihresgleichen
zur Landschaft macht:
wandert und ankommt in ihnen,
sie anfüllt mit Ankunft. 

In diesen Worten des Dichters ist alles gesagt, was die Hand ist und war am Menschen. Der unvergleichliche Leonardo hat die Hand erstmals wissenschaftlich vermaßt und sie in seinen wenigen Gemälden als eine Seelengestalt, eine Taube an den Menschen gebunden, als könne sie jeden Augenblick auffliegen. Von dieser durch die Renaissance vollzogenen Beseelung der Hand an ist die Kunstgeschichte und sind die alltäglichen Betrachter der Hand als einer lesbaren Außenstelle des Unbewußten verfallen; keine Hand ist mehr unschuldig und von hier aus entdeckt man die Hände als das sensibelste Instrument des Menschen. Aus der Hand buchstabiert sich der Geist nach außen. Die in der Sprache formulierten Gedanken verfliegen allzu leicht, das Handgemachte aber und hierzu zählen nicht nur die materiellen Dinge, sondern auch die niedergeschriebenen Erfindungen des Geistes verdanken sich allein der Hand. Die großartige Kunst aller Jahrhunderte ist vor allem Handkunst und die sogenannte Handzeichnung noch immer die Übung, die sich am weitesten von der Lüge entfernt hat.
Immer wenn wir von Kunst sprechen, reden wir zwangsläufig von einem Vorgang, der alle Beziehungen des Menschen bestimmt, nämlich das Handeln. Handeln heißt nichts anderes als etwas mit der Hand tun. Längst ist dieser Bewegungsbegriff auf Abläufe bezogen, in denen die Hand, wenn überhaupt, und sogar in den Künsten nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Eine besondere Haltung unter den Künstlern nimmt deshalb derjenige ein, der sich ausschließlich der Hand bedient und sich als Zeichner versteht, eine Haltung also die nur eine verschwindende Minderheit unter den vielen Künstlern konsequent vertritt.
„ Nur“ Zeichner zu sein, ist historisch gesehen, eine junge Behauptung, was einerseits mit der Rolle der Zeichnung zu tun hat, die man ihr über lange Zeiträume zugedacht hatte, nämlich subaltern einem Größeren vorauszugehen, gleichsam mit künstlerischen Mitteln auf etwas hin zu formulieren, was seinen eigentlichen Ausdruck in einem anderen Medium sucht.
Die Befreiung von dieser Unterordnung war ein radikaler Akt. Gleichwohl ist das Zeichnen in Gefahr auszusterben wie eine seltene Gattung, die man ihrer natürlichen Umwelt beraubt.
Der Zeichner Thomas Müller ist 1959 geboren und gehört mit seiner Sprache in die Reihe derjenigen, die das Zeichnen zu einer wirklich freien Angelegenheit werden ließen. Der Titel seiner Ausstellung Wellen und Teilchen verweist in der physikalischen Anspielung auf die universale Rolle der Zeichnung, der sich Thomas Müller mit seinen Werken verschrieben hat. Er verfolgt keine abbildenden Verfahren, die versuchen, dass zu erfassen, was wir gemeinhin Wirklichkeit oder Realität nennen und dabei vergessen, dass wir gerade wenn wir von Wirklichkeit sprechen, eines der heikelsten erkenntnistheoretischen Probleme berühren. Die Zeichnungen von Thomas Müller haben sehr wohl etwas mit Wirklichkeit zu tun, obwohl wir keinerlei Chiffre finden, die uns einen bekannten Gegenstand zu vermitteln sucht. Wie der Physiker Werner Heisenberg schrieb, bewegt sich „ alles Nachdenken über die Natur (...) unvermeidlich in großen Kreisen und Spiralen.“ Wir können von der Natur nur etwas verstehen, wenn wir über sie nachdenken, denn wir sind mit allen unseren Verhaltensweisen - auch dem Denken - aus der Geschichte der Natur hervorgegangen. Zur Natur gehört, dass sie ihr Eigentliches verbirgt. Der menschliche Geist ist geschaffen, um das Verborgene der Natur zu entbergen. Das Zeichnen, wenn es sich nicht naiv am Sichtbaren aufhält, heißt für mich, sich an das Unverborgene anzunähern. Für das Verstehen der Zeichnungen von Thomas Müller sind dem Zitat von Heisenberg zwei wichtige Begriffe zu entnehmen, zum einen das Denken und zum anderen das Kreisen. Beides, das Denken und das Kreisen, was das unsere rationalisierte Welt bestimmende Lineare aufhebt, nenne ich die natürliche Umwelt der Zeichnung, dieser von mir eingangs als selten bezeichneten Gattung. Nun klingt es seltsam im Zusammenhang mit dem Begriff Zeichnung gegen das Lineare zu argumentieren. Dabei geht es mir nicht um den grafischen, sondern um den geistigen Ausdruck. Das kreisförmige Denken, das nicht etwa eine geometrische Idee ist, sondern das unabgeschlossene des Unendlichen formuliert, ist der Nährstoff jenes geistigen Bildes, das, wenn es gelingt, in der Zeichnung niedergeschrieben ist. Die Antike war die letzte Ordnung, die sich kreisend bewegte, ihr mythologisches Weltbild kreiste um die Existenz, während das nachfolgend Christliche der Geburt ein lineares Leben versprach - wir sprechen immer noch von einem geradlinigen Leben – wenn wir Anstand meinen, das sich nur durch diese Geradlinigkeit in der Auferstehung nach dem Tode dem Höchsten anzuschließen vermag. Durch die Linearität des Christlichen kam nicht nur der Begriff Fortschritt in unseren Sprachgebrauch, sondern war moderne Wissenschaft erst möglich. Eine Wissenschaft allerdings, deren Auftrag es war, das Unendliche des Wissens im Auge zu behalten, was einen irrationalen Ausdruck meint, der besonders etwa in der Kunst, vor allem in der Zeichnung, beheimatet bleiben muß. Weil ich das eben in den Werken von Thomas Müller zu finden meine, spreche ich mich für sie aus.
Dass eine Zeichnung weit mehr ist als eine ästhetische Form der Linie, die sich durch virtuose Verknüpfungen zu den wundersamsten Gebilden aufschwingen kann, liest das geübte Auge aus den oftmals auch unserem Sehsinn widerständigen Zeichnungen von Thomas Müller heraus. Die reine Kontemplation bliebe eine ungenügende Aneignung von Zeichnungen, wenn nicht unser Denken den in ihnen sichtbaren transformativen Akt mit vollzieht. Die Erkenntnis, dass Zeichnen eine Form des Denkens ist, ist eine Erkenntnis die erstaunlicherweise erst im späten 20.Jahrhundert formuliert wird. Was wir bei Thomas Müller in großen Tableaus an der Wand ausgebreitet finden, sind also nicht irgendwelche schönen Zeichnungen, die uns irgendwie ansprechen, weil wir ihnen eine gewisse Harmonie entnehmen, sondern weil sie eine Form des Denkens darstellen, das die tieferen Gebiete unseres Bewusstsein anspricht. Die aus dem in der Renaissance erwachenden Interesse an der äußeren Natur entstandenen „wissenschaftlichen“ Zeichnungen, etwa bei Leonardo da Vinci sind historisch gesehen der Ausgangspunkt für eine zeichnerische Betrachtung, die bei Thomas Müller in die imaginierte Innenwelt der Materie führt. Nicht im wörtlichen Sinne als Nachzeichnung elektronenmikroskopischer Bilder, was lediglich ein stumpfer Realismus wäre, sondern als Meditationen. Wenn das Denken aus der Geschichte der Natur hervorgegangen ist, sollte ihm die Natur auch über das Denken, in unserem Falle über die intuitive und imaginative Erweiterung des Denkens jenseits der mathematischen Formatierung erreichbar sein. Zeichnungen, wie sie Thomas Müller aus seinem Geiste der Hand anvertraut, die sie wiederum auf dem Papier sichtbar macht, sind kosmische oder universale Formulierungen, in denen sich Bewegungen der Materie gleichsam seismographisch abbilden. Unsere Assoziationen reichen von Strukturen organischer und anorganischer Verflechtungen bis hin zu der Psychophysikalität der Empfindungen. Wir sehen kristalline, gewebte, wellenförmige, flächige, gespannte und schwebende Gebilde. Sie sind allesamt erdacht und haben nirgends anders einen realen Ort als in unserem unendlichen Geist, der sich in der Zeit zu vergegenständlichen sucht. Die Assoziationen reichen über die rein physikalischen, materialistisch-strukturellen Bilder hinaus in Spannungsverhältnisse, in die Beziehungen eintreten, für die wir eigentlich kein Bild haben. Es ist das Energiefeld, was wir als Menschen untereinander und bezogen auf die Dinge, die uns umgeben, empfinden. Hier spielt die von Thomas Müller verhalten eingesetzte Farbe in ihrem Gespanntsein eine besondere Rolle. Blaue Lineaturen vermitteln uns etwas anderes als schwarz gezeichnete Linien. Nicht nur in den Zeichnungen, sondern auch in den Ordnungen, die der Künstler an den Wänden und im Raum herzustellen vermag, wird das Kreisen als adäquater Naturausdruck sichtbar. So wie die Gestirne ewig kreisen, haben seine Werke und ihre Beziehungen eine kreisförmige Bewegung, keine lineare Endlichkeit. Einer der größten und zugleich radikalsten Denker, den die Deutschen hervorgebracht haben, hat seine philosophischen Texte kreisförmig geschrieben, fast könnte man sagen, gezeichnet. Alle Missverständnisse, die seinem Werk bisher entnommen wurden, verdanken sich der linearen Übersetzung der gedruckten Gesamtausgabe. Friedrich Nietzsche, von dem ich hier spreche, hat jeden Gedanken auf dem Papier umkreist und ihn dadurch vor dem Tod bewahrt, was eine rationale, endliche Erfassung immer bedeutet. Der Punkt hinter der Satzlinie ist gleichsam der Tod des Gedankens. Das Kreisen hebt diesen Tod auf. Erst die neue transkribierte Gesamtausgabe wird uns dieses Denken unverstellt vor Augen führen. Mit Erstaunen wird man Texte sehen und lesen, die den Duktus von Zeichnungen und Ordnungen haben, wie wir sie hier an den Wänden sehen. Schon im Titel der Ausstellung, in den Begriffen Wellen und Teilchen, ist, wie wir bemerkten, von Wissenschaft die Rede. Aber erst eine kreisende Wissenschaft, die das materialistische Prinzip des endlichen Wissens erweitert und uns über die bloße Materie hinaus zurück bindet an die Unendlichkeit wird uns retten. Dafür ist jede gelungene Zeichnung ein revolutionäres Modell, denn Revolution trägt in sich das Wort zurückdrehen, also kreisen, was Kepler, der Erfinder des Wortes Revolution in der Renaissance auf die Gestirne bezog. Nietzsche hat nicht nur verkündet, er würde nur an einen Gott glauben, der zu Tanzen verstünde er hat auch ernsthaft vorgeschlagen philosophische Gedanken zu tanzen, worin sich wiederum das das ernsthafte Spiel des Kreisens als ein erweitertes Denken aufhält. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass man auch nach den Zeichnungen von Thomas Müller tanzen kann. Also darf ich bitten.

© Eugen Blume