in: Linie Line Linea, Zeichnung der Gegenwart (Ausst.Kat.), hrsg. v. Institut für Auslandsbeziehungen (IFA), DuMont Verlag, Köln 2010

Mitte der 90er Jahre gab Thomas Müller seine malerische Arbeit auf, um sich ganz auf die Zeichnung zu konzentrieren. Sie entsprach mehr der Beweglichkeit seines Denkens und seiner Arbeitsweise. Nicht nur, dass sie die größere Unabhängigkeit erlaubte, sie bot auch die Möglichkeit zur Interaktion zwischen den parallel entstehenden Blättern, sei es im Verknüpfen ihrer Formfindungen oder in kontrastierenden Setzungen. Seither entsteht ein Werk, das zwar dem klassischen Kanon Linie auf Papier verpflichtet bleibt, jedoch in der Radikalität und Konsequenz seiner Untersuchungen an die Grenze des Mediums reicht.
Müllers Ökonomie der Ausdrucksmittel entfaltet dabei einen enormen Reichtum an Variationen und Modulationen. So stehen die freien, offenen Zeichen, geprägt von der ebenso tastend wie entschieden gesetzten Spur des Stifts, neben der zarten, sich im All-over ausbreitenden Textur eines losen Gewebes oder den präzisen Linienbündeln, deren radial angelegte, beinahe manische Parallelführung die Fläche in die Vibration eines tiefen grafitgrauen Sogs oder in die azurblaue Wucht einer dynamischen Torsion verkehrt. Alle Bildelemente sind dabei stets auf das Bildganze hin komponiert und ebenso abstrakt wie anschaulich – nicht mehr als „...ins Meer des Visuellen ausgeworfene Netze“.¹
Die Zeichnungen bestehen aus der Spannung zwischen Fülle und Leere, Kraft und Zartheit, Dynamik und Ruhe, Zufall und Entschiedenheit. Der Spannbreite dieses Dialogs entsprechen die Wahl des Formats von handlich bis wandfüllend und der Einsatz der Farbe vom differenzierten Hell-Dunkel-Kontrast aus Grafit, Kreide und Tusche bis zum kraftvollen Leuchten von Orange und Hellgrün in Acryl oder Öl. Oszillierend zwischen diesen Polen, gegründet auf Experimentierlust und einer analytischen Haltung sind Thomas Müllers Zeichnungen alles in einem: Untersuchungen, Partituren, Rhythmus und lyrischer Klang.

1 Marilena Pasquali, Lichtspuren, in: Thomas Müller, Opere su carta, Ausst.Kat. Galleria Torbandena, Triest 2001

© Ruth Diehl